Entstehung

„Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Richard von Weizsäcker

Stolpersteine, Mahnmale, Straßennamen, Zeitungsartikel, Bücher, Filme oder einfach der Schulunterricht – alle diese Dinge erinnern uns tagtäglich daran, wohin Nationalismus, Hass, Rassenwahn und ideologische Verblendung in der Geschichte geführt haben. Wir nehmen die ohne Zweifel zentrale Rolle der Erinnerung an den Nationalsozialismus in unserem Alltag als selbstverständlich und sehen zuweilen auf andere Länder herab, die sich der Aufarbeitung und Erinnerung ihrer Geschichte noch oder wieder verwehren. Dabei ist vielen Deutschen und namentlich uns Schülerinnen und Schülern nicht bewusst (gewesen), dass der Weg zu unserer heutigen Erinnerungskultur ein langer und steiniger war und dass es oft der Initiative von einzelnen Personen oder Gruppen zu verdanken ist, dass wir heute den 1985 vom 6. Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker postulierten Umgang mit der Vergangenheit beziehungsweise konkret den in der deutschen Vergangenheit begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit pflegen.

Vor diesem Hintergrund ergab sich die Mitarbeit an dem von der Elisabeth-Käsemann-Stiftung initiierten und finanzierten Schulprojekt, das jeweils ein Ausstellungsprojekt von deutschen bzw. argentinischen Schülern beinhaltete. Argentinischer Kooperationspartner war die Pestalozzi-Schule in Buenos Aires. Die Grundkonzeption sah vor, dass die Ausstellungen jeweils in beiden Ländern gezeigt werden würden. Im Zentrum der Ausstellungen sollte jeweils ein Menschenrecht stehen.

Das zehnköpfige Kuratorenteam unserer Schule bildete sich aus Schülern und Lehrern des Seminarkurses der Jahrgangsstufe 1, der sich mit der „zweiten Geschichte“ des NS befasste. In dem „Recht auf Wahrheit“ fanden wir ein geeignetes Thema. Dieses humanitäre Recht ist zwar nicht Teil der UN-Charta der Menschenrechte, hat sich jedoch mittlerweile auf der Ebene internationaler Gesetzgebung etabliert. Es formuliert den Anspruch an Staat und Gesellschaft, Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit aufzuklären, die Erinnerung daran zu wahren sowie künftige Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, und ist deshalb mit der „zweiten Geschichte“ des NS eng verbunden. Denn ohne Offenheit für die oft schonungslose Wahrheit kann Vergangenheit nicht sinnvoll aufgearbeitet werden.

 


Das Kuratieren einer Ausstellung war für uns alle – Lehrer und Schüler gleichermaßen – völliges Neuland. Umso größer war unsere Erleichterung also, dass am Anfang der Planungsphase ein Workshop zur Einführung in die Arbeit der Kuratoren im Haus der Geschichte in Stuttgart angeboten wurde. Die Erleichterung verflog allerdings nach diesem informationsbeladenen Nachmittag sogleich, wurden uns doch erst durch die Arbeit mit den professionellen Kuratorinnen Größe und Aufwand unseres Vorhabens bewusst. Auch hatten wir etwaige Hürden wie beispielsweise ein angemessenes Text-Medien-Verhältnis, um eine hohe Textlastigkeit in der Ausstellung zu vermeiden, zuvor nicht bedacht.

Wir widmeten uns in den folgenden Sitzungen also vorerst anderen Aufgaben wie der grundsätzlichen Konzeption der Ausstellung. Bald schon stellten wir fest, dass die Schwierigkeit des Kuratierens nicht darin bestand, Ideen zu finden, sondern vielmehr sie zu ordnen, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzuführen und letztendlich auch umzusetzen. Hinzu kam die Notwendigkeit, dass die Ausstellung für Deutsche und Argentinier gleichermaßen verständlich sein sollte. Unser Austausch mit unseren argentinischen Partnerschülern, die ihrerseits eine Ausstellung über das Recht auf freie Meinungsäußerung in Zeiten der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) konzipierten, hatte ergeben, dass man dort ebenso wenig über die deutsche Geschichte wusste wie hier über die argentinische. Wir konzipierten die Ausstellung also als einen Rundgang durch die deutsche Geschichte nach 1945 entlang eines Zeitstrahls. Dies erwies sich später auch in Deutschland angesichts der Geschichtskenntnisse der jugendlichen Besucher der Ausstellung als eine gute Lösung. An einzelnen Ereignissen festgemacht, sollten zudem verschiedene Aspekte der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland vertieft werden.

Als weitaus zeit- und diskussionsintensiver erwies es sich, einen Titel für die Ausstellung zu finden, der auf die enge Verbindung des Rechts auf Wahrheit mit der Aufarbeitung und Erinnerung an den Nationalsozialismus verweist. Da der Titel für den Besuch in Argentinien ja auch ins Spanische übersetzt werden musste, war das durchaus problematisch. Denn den Begriff „Aufarbeitung“ gibt es im Spanischen so gar nicht. Das spanische Wort „verdad“ für „Wahrheit“ hingegen beinhaltet „ver“, „sehen“. Wegen dieser in dem kurzen Wort enthaltenen Doppeldeutigkeit fanden wir „VERdad“ einen äußerst passenden Titel zu einem Thema, in dem die „Wahrheit“ eng mit „sehen“ und „nicht sehen“ wollen zusammenhängt. Aus dieser Bedeutung heraus entwickelte sich auch das Emblem der Ausstellung: Der geteilte Kopf einer Gliederpuppe mit einem geöffneten Auge auf der gelben Seite und einem geschlossenen auf der grauen Seite, die eine der Wahrheit zugängliche und eine der Wahrheit verschlossene Haltung gegenüber dem NS symbolisieren. Der deutsche Titel „WAHRvergangenHEIT“ bezieht sich direkt auf das Menschenrecht auf Wahrheit und formuliert nochmals dessen Anspruch und die Forderungen, die es an die Gesellschaft stellt. Die Vergangenheit soll gewissermaßen in die Wahrheit eingebettet sein.

 

Die Arbeit an der Ausstellung war in vielerlei Hinsicht sehr lehrreich, verlangte aber auch ein hohes Maß an Improvisationsfähigkeit. So mussten wir eben lernen mit einem selbstverständlich nicht unbegrenzten Budget zu haushalten. Gerade die horrenden Transportgebühren der Fluggesellschaften sorgten für reichlich Kopfzerbrechen. Sperrigere Ideen ließen wir also wieder fallen und disponierten auf kleinere und leichtere Lösungen um, die wir auch im Handgepäck nach Buenos Aires transportieren konnten. Was uns dennoch buchstäblich teuer zu stehen kam, waren die Gebühren für Bildrechte. Eine Handvoll Bilder nahm so fast die Hälfte unseres Budgets in Anspruch. Andererseits haben uns auch einige Einrichtungen Bild- und Tonmaterial kostenlos zur Verfügung gestellt.

Das Ausstellungsprojekt brachte allen Beteiligten nicht nur wichtige zwischenmenschliche, sondern neue kulturelle Erfahrungen. Die Konfrontation mit Herausforderungen jenseits des schulischen Alltags war eine große Bereicherung für uns alle und hat unter anderem gezeigt:
War der Weg der Wahrheit nach 1945 auch ein steiniger und kurvenreicher, so hat er letztendlich doch in die richtige Richtung geführt. Die Tatsache, dass eine solche Ausstellung im Rahmen eines Schulprojektes entstehen konnte, ist der beste Beweis.