Reise nach Buenos Aires
17. – 26. Juni 2018
Justicia – Verdad – Memoria — Gerechtigkeit – Wahrheit – Erinnerung
Stillen Mahnwächtern gleich empfangen die in drei graue Steinsäulen geprägten Worte den Besucher neben dem Eingangsportal der ehemaligen Marineschule „Escuela de Mecánica de la Armada“ in Buenos Aires. Doch unser Weg führt vorbei an dem neoklassizistisch angehauchten, schneeweißen Hauptgebäude. Herbstlich bunte Laubbäume und andere weiße Gebäude mit hohen Fenstern säumen den Weg. Das Gelände war sicherlich einmal beeindruckend, doch für den, der weiß, dass hier vor nicht einmal 40 Jahren tausende Menschen gefoltert und ermordet wurden, wirkt die so unschuldig weiße, inzwischen leicht heruntergekommene Architektur unwirklich und verstörend, ja geradezu spöttisch. In unserer Gruppe spürt man eine beklommene Anspannung, während wir über das Gelände des ehemals größten Folterzentrums in der Zeit der letzten argentinischen Militärdiktatur gehen. Unser Ziel ist die „Casa por la Identidad“, das Haus der Identität, das Gebäude, in dem wir unsere Ausstellung „WAHRvergangenHEIT“ über das Recht auf Wahrheit und die zweite Geschichte des Nationalsozialismus zeigen werden. Trotz des strahlenden Sonnenscheins ist es empfindlich kalt. Natürlich, denn es ist Winter in Buenos Aires.
Die „Casa por la Identidad“ ist der Sitz der „Abuelas de Plaza de Mayo“, der Großmütter (und Mütter) der „Desparecidos“, wie die Menschen genannt werden, die die Militärjunta „verschwinden“, foltern und ermorden ließ. Die Abuelas machten schon während der Militärdiktatur trotz größter Gefahren öffentlich auf ihre verschwundenen Kinder und Enkel aufmerksam, indem sie jeden Donnerstag um 17 Uhr auf der zentralen „Plaza de Mayo“ demonstrierten – und sie tun das noch immer.
In den zugigen Räumen der „Casa por la Identidad“ ist es noch kälter als es draußen schon ist. Da ist es gut, dass wir noch viel zu tun haben, wobei uns die unglaublich freundlichen und hilfsbereiten Mitarbeiter des Museums tatkräftig unterstützen, indem sie uns Stellwände, Tische, Vitrinen und Kabel bereitstellen. Frau Weitbrecht und ihr Team besorgen uns noch schnell drei Meter Maschendraht und eine letzte Rolle Doppelklebeband. Unsere Mittagspause machen wir aus Zeitnot in zwei Schichten in der direkt gegenüber auf dem ESMA-Gelände gelegenen Cafeteria. Dort sitzen viele lachende und laut redende junge Menschen, Studenten und Mitarbeiter der Gedenkstätte. Ein WM-Spiel wird übertragen. In der schön eingerichteten Buchhandlung finden sich sorgfältig ausgewählte Titel zur Aufarbeitung der argentinischen Diktatur, darunter auch Kinderbücher.
Nach dem Aufbau unserer Ausstellung beginnt für uns ein interessantes und bewegendes Rahmenprogramm, das uns an die Schlüsselstellen der letzten argentinischen Militärdiktatur führt. Nicht zuletzt die Tafel mit dem Namen unserer ehemaligen Schülerin Elisabeth Käsemann an der langen mit den Namen von tausenden „Desaparecidos“ beschrifteten Gedenk-Mauer des „Parque de la Memoria“ löst unsere tiefe Betroffenheit aus.
Die Erinnerung an die vor rund 40 Jahren begangenen Untaten ist überall präsent auf den Straßen von Buenos Aires und auch in den Familien unserer Austauschschüler geht man sehr offen mit diesem schwierigen Thema um. Mit unseren großartigen Gasteltern sprechen wir über deren Erfahrungen und Erlebnisse in der Militärdiktatur, aber auch über das „Dritte Reich“ und über den wieder aufkommenden Nationalismus, nicht nur bei uns in Deutschland bzw. Europa, sondern auch in Argentinien. Natürlich auch über Mate-Tee, die leckeren Croissants und manchmal über Fußball, aber eben nur manchmal.
Von unseren Gastgebern geführt, aber auch auf eigene Faust erkunden wir zehn Wildermuthler Teile der gigantischen Stadt und erleben eine ungeheure Vielfalt an kaum in Worte zu fassenden Eindrücken. Die architektonische Bandbreite erstreckt sich von zehnspurigen Avenidas bis zu kleinen mit Kopfstein gepflasterten Straßen, von Klinkerbauten über prachtvolle Stadthäuser bis hin zu gläsernen Wolkenkratzern. Von prachtvollen Villen-Gegenden zu Armenvierteln, die wir nur aus sicherer Entfernung sehen, in denen Elisabeth Käsemann aber vor rund 40 Jahren arbeitete, um den Bewohnern dort zu helfen – was sie letztendlich mit dem Leben bezahlen musste.
Ein besonders eindrückliches und bewegendes Erlebnis ist unser Besuch im „Museo Sitio de la Memoria“ in der ESMA. Am Eingang werden wir von der Kuratorin des Museums, Alejandra Naftal, überschwänglich begrüßt, als wären wir alte Freunde. Sie hat die Unmenschlichkeit der Diktatur am eigenen Leib erfahren und war als junges Mädchen ein Jahr lang, von 1978 bis 1979, Gefangene in demselben Folterlager, in dem Elisabeth Käsemann 1977 ermordet worden war. Es berührt uns tief, dass jemand, der solche Unmenschlichkeit erfahren hat, so freundlich und warmherzig sein kann.
In den folgenden zwei Stunden werden wir mit dem Sadismus und der Grausamkeit des Miltärregimes konfrontiert. Die Räume im ehemaligen Casino der Marineschule, in denen Tausende Qualen durchlebten, strahlen noch heute eine ungeheure Kälte aus. Über die gesamte Führung hinweg meint man Leid und Elend der Gefangenen regelrecht in der Luft der inzwischen leicht vermoderten Räume riechen zu können.
Mit einer gewissen Genugtuung sieht man daher die Videoinstallation am Ende der Führung, die nicht ohne Pathos die Daten zu den Gerichtsverfahren und Verurteilungen vieler Militärs zeigen – allerdings nur derjenigen, die sich nicht erfolgreich hinter dem die Strafverfolgung behindernden „Pacto del silencio“ der Täter verstecken konnten. Insgesamt scheint Argentinien nach knapp 40 Jahren trotzdem mit der juristischen Aufarbeitung im Vergleich zur Bundesrepublik recht weit zu sein.
Die Präsentation unserer Ausstellung ist einer der Höhepunkte des Besuchs. Viele unserer Gastfamilien sind trotz der ungeschickten Uhrzeit von 11 Uhr am Freitagmorgen gekommen. Auch Alejandra Naftal ist da. Sie und ihr Freund wurden auf den Tag genau 40 Jahre zuvor vom Militärregime verhaftet. Eine „Abuela“, deren Eltern als Juden Europa in den 20er Jahren verlassen haben, erzählt ihre Geschichte. Ihr Sohn und dessen schwangere Freundin wurden von den Militärs entführt, im Casino der ESMA gefoltert und auf einem der sogenannten „Todesflüge“ betäubt über dem Río de la Plata abgeworfen. Ihren während der Gefangenschaft geborenen Sohn Sebastián übergaben die Militärs der Familie der Freundin – und nicht wie in den meisten anderen Fällen einer regimetreuen Familie, womöglich aus dem unmittelbaren Umkreis der Täter. Über eine Gendatenbank haben sich Großmutter und Enkel, die auf dem Podium nebeneinander sitzen, nach vielen Jahren wiedergefunden.
Unsere Ausstellung findet bei den Besuchern, die aus allen Altersgruppen kommen, großen Anklang. Einige Besucher, die wohl auch Vorfahren haben, die aus Deutschland fliehen mussten, haben Tränen in den Augen.
Mit der Präsentation der Ausstellung geht eine erlebnisreiche und eindrucksvolle Zeit zu Ende, in der wir intensiv eine Kultur kennenlernen durften, die unserer in vielerlei Hinsicht ähnlich erscheint und doch oft ganz anders ist. So verspätet sich unser Abflug vom ultra-modernen Flughafen aufgrund eines Generalstreiks um zwölf Stunden, aber nervös werden deswegen nur wir Deutsche. Wir haben die Argentinier und insbesondere unsere Gastgeber als unglaublich herzliche und warme Menschen erlebt. Wir haben über den eigenen Tellerrand hinausblicken können und haben andere Formen der Erinnerung und des Umgangs mit der Vergangenheit und den Mitmenschen kennengelernt und am eigenen Leib erfahren, dass die Kommunikation über die Kanäle alma (Seele) und corazón (Herz) auch ohne perfekte Spanischkenntnisse funktioniert. Die Erinnerung daran wird uns immer begleiten.
Es ist mehr als nur unsere moralische und mitmenschliche Pflicht als demokratische Staatsbürger, uns für die Werte, von denen wir profitieren, einzusetzen, damit „Justicia“, „Verdad“ und „Memoria“ nicht bloße in Stein gravierte Worte bleiben, sondern überall auf der Welt Realität werden.